»Wir sind hier, in der Hauptstraße 37!«

Ein Gespräch über Queerfeminismus in Brandenburg

Raus aufs Land

Die Idylle, die Leere, die Seen und Wälder locken jedes Jahr hunderttausende Menschen nach Brandenburg. Die Sehnsucht nach dem einfachen Leben, der Abgeschiedenheit oder der Auszeit vom Alltag treibt viele an. Was für die Einen nach touristischer Kampagne klingt, ist für die anderen der Wunsch, das Leben von Grund auf zu ändern. Sie sind auf der Suche nach einer Heimat fernab der städtischen Hektik. Ob Zufluchtsort, Experimentierfeld oder Zwischenstation, Brandenburg scheint ein modernes Arkadien für Lebensträume.

Unberührte Natur, engere soziale Bindungen als in städtischen Kontexten, eine gute Nachbarschaftshilfe und das gesunde, im eigenen Garten gezogene Gemüse sind seit Jahren Themen zahlreicher Lifestylemagazine, die sich bei einem breiten städtischen Publikum großer Beliebtheit erfreuen. Und mit Blick auf die Bevölkerungsstatistik bestätigen Expert_innen, dass der sogenannte »erweiterte Metropolraum« von Jahr zu Jahr attraktiver wird.

Worauf warten wir noch? Ziehen wir raus aufs Land.

Eine Frage der Privilegien

Das Privileg, den Wohnsitz in ein anderes Bundesland zu verlegen, genießen nicht alle Menschen in Deutschland, auch wenn dieses Recht auf Freizügigkeit laut Grundgesetz allen Bürger_innen zusteht. Für »Asylberechtigte, anerkannte Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte sowie für Menschen, die wegen eines Abschiebungsverbots erstmals eine Aufenthaltserlaubnis« (Quelle: queerrefugeeswelcome.de) erhalten haben, gilt dieses Recht nicht. Sie sind an das Bundesland »gebunden«, in dem das Asylverfahren durchgeführt wird. Die Bewegungsfreiheit von Geflüchteten kann sogar soweit eingeschränkt werden, dass die Zuweisung eines speziellen Wohnortes erfolgt.

Was also als »Recht auf Freizügigkeit« in unserem Grundgesetz verankert wurde, ist im Grunde ein Privileg der Mehrheitsgesellschaft. Den Wohnort nach Brandenburg zu verlegen, bedeutet für viele Menschen in Deutschland eine unüberwindbare Hürde. Die Idylle, das Experimentierfeld, der Zufluchtsort bleiben verwehrt. Doch nicht nur rechtliche Grenzen stehen einem möglichen Wechsel des Wohnortes entgegen. Wer will schon in einem Bundesland leben, in dem mancherorts mehr als ein Viertel der Bevölkerung bei der letzten Bundestagswahl die #noAfD gewählt haben.

Aber hier leben, nein danke.

Tocotronic, aus: Pure Vernunft darf niemals siegen, 2005

In den Tagen, in denen ich für diesen Text recherchiere, lese ich einen Beitrag auf Instagram. Er erschien im Rahmen der Themen­woche „Urlaub als Privileg“. Die Autorin Jule Weber (@webersjule) schrieb dazu in einem Instagrampost von ihrem Wunsch, Urlaub in einem entzückenden Ferienhäuschen auf dem Land machen zu wollen. Gleich­zeitig schreibt sie aber auch von ihrer Angst, dass ein kleines Dorf in Deutschland kein sicherer Platz für eine queere Frau sein könnte.

Wie sicher sind brandenburgische Dörfer für Queere und Transmenschen, für Geflüchtete, für Menschen mit Behinderung? Diskriminierungen aufgrund der Herkunft, des Aussehens, der Geschlechtsidentität oder anderer Gründe gehören für Be­troffene zum Alltag. Das gilt natürlich nicht nur in ländlichen Räumen. Trotzdem existieren in urbanen Kontexten häufiger soziale Strukturen, die als „sicher“ empfunden werden.

Auf der Suche nach einem Safe Space

Wer in ländlichen Räumen gegen Sexismus, Rassismus, Ableismus, Body Shaming, Homo­- und Transphobie und alle weiteren Formen von Diskriminierung kämpft, ist oftmals allein auf weiter Flur. Doch gibt es sie, die wenigen Orte, die effektiv als Safe Space empfunden werden können. Auch wenn sie nicht geeignet sind, um mit der Familie einen entspannten Urlaub zu verbringen. (Und Familie meint hier nicht die von der #noAfD propagierte, sogenannte »klassische Form der Familie«.) Es sind im Gegenteil Orte der Auseinandersetzung mit der ländlichen Bevölkerung, #noAfD-Anhänger:innen, alltäglichen Diskriminierungsformen und bürokratischen Steinen im Weg. Es sind aber auch Orte der Zukunft, an denen jene Fragen diskutiert werden, die sich uns zukünftig noch häufiger stellen werden. Hier wird demokratische Graswurzelarbeit betrieben.

Ich hatte das Glück, einen dieser Orte in Brandenburg kennenzulernen. Er befindet sich nur ca. ein bis zwei Auto­- oder Bahnstunden von Berlin-­Mitte entfernt. Inmitten der ländlichen Idylle steht das Haus des Wandels, ein queerfeministisches Kollektiv, dass sich dem Kampf gegen jedwede Form der Diskriminierung verschrieben hat. Ich erinnere mich noch sehr gut an das zweigeschossige Gebäude mit seinen nach hinten ausgreifenden Seitenflügeln, dass vom Grundriss eher einem brandenburgischen Schloss gleichkommt. Und doch strahlt das Areal ganz klar den Charme einer ehemaligen LPG aus.

Die Betonplattenwege vor dem Haus werden von grünen Streifen umrandet. Auf der Wiese steht ein groß gewach­sener Baum und direkt daneben eine umgedrehte Baumwurzel, die den Anschein erweckt, als würde der Baum in der Erde eine Kehrtwende machen und nun von beiden Seiten aus der Erde herauswachsen. Wenn so etwas möglich wäre, dann hier.

Der Eingangsbereich des Hauses ist verwaist. Die DDR-Anmutung wird im Innern durch verschiedene Kunstwerke, bunte Hinweisschilder und Infomaterialien überformt. Hengameh Yaghoobifarah, eine Stilikone und Aktivistin der queeren Szene in Deutschland, blickt mich vom Cover des Missy Magazines aus an. Ein Flyer fordert zum Kampf für die Rechte von geflüch­teten Frauen* auf und ein A3-Plakat verkündet, dass dieser Ort zu »#DOERFERGEGENRECHTS« gehört. Ein weiteres Maga­zin informiert über ein Förder­ und Qualifizierungsprogramm der politischen Bildung in ländlichen Räumen. Diese Materialien wurden nicht lose zusammengetragen. Sie alle sprechen eine klare Sprache und verraten mir etwas über die Menschen, die hier wirken. Es sind Vollprofis in dem, was sie tun.

Wenn du brennende Barrikaden erwartet hast…

Ich werde freundlich von Julia begrüßt. Sie gehört zum Künstler:innen­kollektiv »Muerbe & Droege«. Seit 2018 sind sie in Heinersdorf und arbeiten als Künstler:innen, als »Frauen* für Alles« oder KvD (Künstler:innen vom Dienst) im Haus. Mit Kaffee, Wasser und einer Decke setzen wir uns nach draußen in den Garten des Hauses. Ich erzähle ihr von dem Text, den ich schreibe. Wir merken schnell, dass ich eigentlich gar nicht so viel über diesen Ort weiß. Sie holt aus: »Das ist hier ein post­lokaler Dorfplatz, ein Raum für Aktion und Verhandlung, für Kunst und Lernen. Es geht uns um feministische Beziehungen, um utopische Gast­freundschaft, intersektionale Analysen, transformative Aktionen, künstlerische Strategien, strukturell nachhaltige Infrastruk­turen und antiautoritäre Organisationsformen. Sie alle bilden die Grundlage unserer Arbeit hier in Heinersdorf. Aber vor allem geht es uns um das praktische Arbeiten, mit den Menschen im Ort und im Landkreis.«

Ich gestehe, dass ich mir unter einem queerfeministischen Kollektiv mehr Streben nach Autarkie vor­gestellt habe. Julia antwortet entschieden: »Autarkie ist eine privilegierte Lüge.« In der Vergangenheit hätten sich gesellschafts­kritische, linke Kollektive oft durch ihr Streben nach Autarkie bzw. Abgrenzung von der Mehrheitsgesellschaft ausgezeichnet. Praktikabel sei das aber nicht. Man könne die Welt nicht transformieren, wenn man sich abschottet. »Die Menschen im Haus arbeiten in radikaler Selbstsorge, aber sie verstehen sich auch als eingebunden in die ökologischen und sozi­alen Kreisläufe. Wenn du also brennende Barrikaden erwartet hast, bist du hier falsch.«

Darüber hinaus hat Abschottung eben auch immer etwas mit Privilegien zu tun. »Unsere Botschaft ist viel einfacher: Wir sind hier, in der Haupt­straße 37!«. Mit dieser Adresse könne man sich nicht ver­stecken. Hier kämen alle aus dem Ort vorbei. »Natürlich wird uns regelmäßig der Briefkasten gesprengt, aber ich glaube daran, dass eigentlich keiner Bock auf Beef hat.« Die Neugier überwiege, meint Julia.

no -isms and no -phobias

Julia vom Künstler:innenkollektiv „Muerbe & Droege“

Ich lenke das Thema noch einmal auf das Eigenverständ­nis des Hauses zurück. Julia spricht von Gastfreundschaft, von Beziehungen, Intersektionalität und Transformation. »Ja! Wir haben hier einen Ort für Menschen geschaffen, die bereit sind, einen emanzipatorischen Raum mit uns zu teilen. Das sind eben häufig Frauen* und Queers. Im Grunde kann aber jede Person, die sich vorher angemeldet hat, vorbeischauen oder an Veranstaltungen teilnehmen. Es muss nur klar sein, dass es rote Linien gibt: no ­-isms and no ­-phopias.« So habe sich ein Mann in der Vergangenheit sexistisch gegenüber den Bewohner:innen verhalten. Das konnte nicht toleriert werde. Das »Haus des Wandels« muss ein Schutzraum für diejenigen sein, die es bewohnen. »Miteinander leben ist eben eine Haltung.«

Das »Haus des Wandels« hat es sich zur Aufgabe ge­macht, die Diskriminierungen und Privilegien in der ländli­chen Gesellschaft zu erforschen. Der Begriff Intersektionalität vermittelt dabei vor allem, dass Diskriminierungen nie nur eindimensional gedacht werden dürfen und eine Person von ver­schiedenen Diskriminierungsformen betroffen sein kann. Man kann Frau* sein, man kann BIPoC sein, man kann queer sein und das alles auf einmal. »Wir erwarten, dass du dein Verhalten reflektierst und deine Privilegien hinterfragst, wenn du Teil un­seres Kollektivs sein willst.«

Das heißt, man kann einfach so kommen und mitmachen? Früher wären sie offener gewesen und hätten weniger Bedingungen gestellt, erzählt Julia. Aber das Haus ist kein Gästehaus. Es geht darum, den gemeinsamen Raum zu beleben. Sie verstehen sich als ein »offenes Haus« für viele, aber die realen Verhältnisse verlangen, dass Bewohner:innen an dem, was das Haus ist und sein soll, mitarbeiten. Momentan bedeutet das eben auch, sich Gedanken über eine neue Zentralheizung zu machen. Im Winter hätten sie nur die Möglichkeit, 200 der 3.000 Quadratmeter zu beheizen. Da kann es dann schon einmal eng werden für die ca. 12 Bewohner:­innen. »Wenn also jemand hierherziehen will, dann muss die Person einen Plan haben.« Und dieser Plan sollte dann auch zum Haus passen. »Nur das eigene Ding durchzuziehen, reicht nicht aus.«

Utopia Heinersdorf

Im Laufe unseres Gesprächs kommen wir irgendwann auf die fast banale Frage, wie es sich denn lebt, in diesem Brandenburg. Man muss dazu sagen, dass keine der Bewohner:­innen aus Brandenburg stammt. Alle sind zugezogen. Also ist »die Frage nicht so einfach zu beantworten«, sagt Julia, denn lange Zeit konnte sie sich kaum vorstellen, auch nur in Deutschland be­graben zu sein. Das habe sich mittlerweile geändert. »Liegt es daran, dass der Charme der Brandenburger:innen besser ist als ihr Ruf?«, frage ich. Vielleicht. Es habe sich gezeigt, dass die Menschen, die in Heinersdorf und in den benachbarten Gemein­den leben, eben auch nur Menschen seien: neugierig, tiefgründig, schweigsam. Julia erzählt mir von einer Begegnung mit einer Nachbarin, der sie nur beiläufig erzählt habe, dass der Wäscheständer des Hauses kaputt gegangen sei. Wenig später hätte die Nachbarin mit drei Wäscheständern vor der Tür gestanden. Sie selbst hätte zwar keinen gehabt, aber dafür eine andere Nachbarin gleich zwei. Der dritte war dann auch schnell gefunden. In einer Dorfgemeinschaft funktionieren die Verhältnisse zwischen den Menschen eben anders. Nach­barschaftshilfe habe da nicht nur mit Solidarität oder Sympathien zu tun. Ressourcen zu teilen, sei hier eine Form des Überlebens. Es klingt fast wie die utopische Vorstellung einer postapokalyptischen Zeit.

»Wir sind hier auch nicht in Brandenburg, sondern in Ostbrandenburg. Den Unterschied merkt man schon.« In einem Atemzug spricht sie von offen ausgelebtem Faschismus, von einer viel schöneren Landschaft, von herrlichen alten Alleen, den meisten Sonnenstunden, der fehlenden Sichtbarkeit migrantischen Lebens. »Aber blöd und schön ist es überall!« Um die Menschen und auch die Landschaft verstehen zu können, müsse man begreifen, dass man sich in einem postsozialistischen Raum bewege. Noch immer haben die meisten Menschen hier länger in der DDR gelebt, als im wie­dervereinigten Deutschland. Und immer habe man den Menschen erzählt, was nicht geht. Dabei funktioniere das Dorfleben hier seit Generationen, sagt sie. »Die Verweigerungshaltung vieler ist eine historisch gewachsene Resilienz. Man könnte sagen, die preußische Aura kommt immer noch durch.«

Das Leben in Kollektiven ist sogar krisenfester.

Julia vom Künstler:innenkollektiv „Muerbe & Droege“

Das »Haus des Wandels« trägt den Transformationsge­danken bereits im Namen. Das bringt mich zu der Frage, was die Ziele des Hauses und seiner Mitbewohner:innen sind. Julia lacht, denn natürlich gehe es ihnen darum, zu beweisen, dass es geht. Es kann gelingen, die patriarchalen Struk­turen hinter sich zu lassen. Im Grunde sei das Leben in Kol­lektiven sogar krisenfester. Es gebe mehr materielle und auch immaterielle Ressourcen. Während der Corona­Pandemie habe das Haus einen regelrechten Wachstumsschub erfahren, mehr Leute kamen und wollten an der Idee des Hauses mitarbeiten. Klar, das bringe auch Probleme mit sich. Je größer das Plenum sei, desto schwieriger wird es, Entscheidungen zu treffen, die für alle tragfähig sind. Man kann sich mit einer grö­ßeren Anzahl an Mitstreiter:innen aber auch übergeordneten Aufgaben widmen, stärker in die Zukunft denken. Sie alle verfol­gen einen künstlerischen Ansatz, der frei von Zielvorgaben sei. Es gehe viel eher darum mit Kunst und durch Kunst zu lernen, mit künstlerischen Aktionen gesellschaftlich relevante Fragen zu diskutieren. Dabei müsse nicht unbedingt ein Kunstwerk entstehen. Viel wichtiger sei, meint Julia, dass die Menschen im Haus und die Dorfbewohner:innen einander ins Gespräch kom­ men.

Heiter trotz alledem

Ja, es klingt wie eine Kampfansage: »Wir sind hier, in der Hauptstraße 37!« Im Grunde ist es aber eine Einladung an all jene, die daran glauben, dass es eine Welt ohne Diskriminierungen geben kann. Ich war mit dem Vorurteil nach Hei­nersdorf gekommen, dass die Protagonist:innen im »Haus des Wandels« ein klares Freund­-Feind­-Bild haben. Und ja, es gibt unverhandelbare Positionen. Dafür stehen das Haus und die Menschen, die es tragen. Auch wenn für die Kunst im Alltag des Hauses – zumindest für Julia und das Künstler:innenkollektiv »Muerbe & Droege« – manchmal wenig Zeit bleibt, so ist dieser Ort doch ein Verhandlungsraum in dem viel möglich ist. Die Kunst ist dabei ein Interface für komplexe, kulturelle Operationen, mit der die gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit verhandelt werden können. Auf einem kleinen Info­Booklet, das die Arbeit des Hauses erläutert, steht »Heiter, trotz alle­ dem«. Ich habe das zunächst nicht verstanden. Jetzt aber weiß ich, was mir dieser Ausspruch sagen soll. Heinersdorf ist ein einzigartiger Ort. Und er ist es auch, weil die Menschen im »Haus des Wandels« jeden Tag daran arbeiten, dass dieser Ort in Brandenburg nicht einzigartig bleibt.


Dieser Text erschien zuerst im Buch Brandenburg – die Kunst zu Leben. Ich habe ihn für meinen Blog überarbeitet. Das erwähnte Buch habe ich für die Brandenburgische Gesellschaft für Kultur und Geschichte gGmbH, Kulturland Brandenburg, erarbeitet. Es umfasst darüber hinaus Texte von Martin Ahrends, Kenneth Anders, Lars Fischer, Gudrun Gorka-Reimus, Alexa von Heyden, Karosh Taha und Susanne Isabel Yacoub, Gedichte von Anushka, Alisha Gamisch und Marit Persiel sowie Fotos des Potsdamer Fotografen Frank Gaudlitz.

Buchcover, darauf steht: Brandenburg – die Kunst zu Leben, 2022
Cover des Buches „Brandenburg – die Kunst zu Leben“, erschienen bei SHIFT BOOKS

Das Buch Brandenburg – die Kunst zu Leben ist beim Berliner Verlag SHIFT BOOKS erschienen. Weitere Information zu dem Buch findet hier unter dem folgenden Link.