1948

Von draußen betrachtet, hätte sie wohl mit dem Kopf geschüttelt oder ein wenig mitleidvoll sein Handeln beobachten können. Eine ältere Frau läuft vorbei und schämt sich fremd. Mitleid konnte man in ihren Augen aber nicht erkennen. An diesem Morgen liefen nicht viele Menschen an dem Balkon vorbei. Und selbst wenn, wäre dieser graue Klotz zwischen all diesen grauen Klötzen gar nicht aufgefallen. Der einzige Hinweis auf die Einzigartigkeit war eine schwarze Plastikkrähe. In den Erinnerungen eines älteren Mannes, der hier seit fast vierzig Jahren jeden Morgen vorbeilief, stand diese Krähe mal hier, mal dort. Es ist noch nicht lange her, da hielt er in seinen morgendlichen Gang kurz inne, überlegte, ob sie neu sei. Dann widmete er sich wieder seinem vorherbestimmten Weg, zählte die Tage bis zu seinem Lebensende und schon war der schwarze Vogel vergessen. Ein anderer Mann, er war jung und schön und seine Schritte waren leichtfüßiger als die des Älteren, der bemerkte diese Krähe nicht. In seinen Gedanken spielten junge, schöne Menschen eine so ausgiebige Rolle, dass darin nichts anderes Platz fand.

Dieser besagte Morgen war nur wenig anders als die anderen. Vielleicht war er auch fast identisch mit all den vorangegangenen. Der Protagonist war aufgestanden. Er holte sich eine Tasse aus dem Abwaschbecken. Früher hatte er sie abends noch gesäubert. Irgendwann, nach Jahren der immer gleichen Wiederkehr der Dinge und Taten, kam ihm der Gedanke, dass eben diese Tasse, die vom vielen Abwaschen schon ganz blank war, am kommenden Morgen wieder dreckig werden würde. Und er ließ sie stehen. Auch die Plastikdose mit löslichem Kaffee stand griffbereit neben dem Waschbecken. In jedem anderen Haushalt und an jedem anderen Morgen stand die Dose auf einem vorgesehenen Platz im Speiseschrank. Heute nicht und nicht bei ihm. Vielleicht aber waren diese kleinen, mikroskopischen Veränderungen deshalb kaum spürbar, weil die Veränderungen der Tage fast nichts ausmachten. Auch gestern stand die schmutzige, blanke Tasse im Waschbecken. Dieser Morgen fühlte sich nicht anders an.

Aus dem Heißwasserhahn rann eine lauwarme Brühe. Er füllte die Tasse randvoll. Schnelles Rühren soll das Lösen des Kaffees beschleunigen. Der Löffel schmeckt nach Rost und am Boden der Tasse blieben kleine, bittere Krümel kleben. Wenn er auf ihnen umherkaute, klebten sie noch den gesamten Tag in seinen Zähnen fest. Sie glänzten wie schwarze, faulige Ablagerungen. So hatte er sich einmal einen Bezahlmenschen gerufen. Nichts Ungewöhnliches. Er kam, setzte sich auf seinen Schoß, fummelte ein wenig an ihm herum und ging wieder. Als er ihn zum Abschied anlächelte und seine Zähne entblößte, rannte der vor Ekel davon, so schnell seine klapprigen Stelzen ihn trugen. Das Lächeln hielt noch lange an diesem Abend. Vor Schreck hatte der Bezahlmensch vergessen, seine Bezahlung einzufordern.

Für das Durchqueren der kleinen Wohnung, von der Kochnische auf der einen Seite des Raumes bis zur undichten Glastür auf der anderen Seite, benötigte er nur wenige Augenblicke. Im Vorbeigehen packte er seinen roten, ausgeblichenen Bademantel. Wenig geschickt zog er ihn an, verplemperte zu viel der braunen Brühe und wischte die Hand am feingerippten Unterhemd ab. Das Hemd ließ erkennen, dass er häufiger Kaffee verschüttete. Die klebrigen Flecken bildeten ein unförmiges Muster. Das Unterhemd passte farblich zu den Zähnen. Er trat hinaus auf den Balkon. Wenige Minuten, die zu einem Ritual geworden waren. Hier draußen stand er. Beobachtete den einzigen Vogel, der leblos im Wind schwebte und mit jeder Böe drohte, abzuheben. Ein letzter Schluck und die Arbeit rief mit dröhnender Stimme aus dem Teleschirm.

Trotz klirrender Kälte brannte der Wind auf seiner Haut. Die Luft legte sich wie eine Metalldose auf seiner Zunge. Nicht weit entfernt überragten Schornsteine die Stadt, spuckten unaufhörlich tiefschwarzen Kleister in die Luft, der abends als quälender Husten wiederum Vorschein kam. Er hatte vergessen, was sie dort verbrannten. Es war nicht wichtig oder diente der Allgemeinheit. An diesem Morgen waren die Allgemeinen die Anderen. Der Teil, der ihn sonst zu diesen Anderen gehören ließ, war verschwunden. Er war kein Teil davon. Kein Rädchen im Schornsteingetriebe. Die Minuten vergingen, die grauen Schluchten der Straßen verschluckten seine Blicke. Kaum eine Regung war zu spüren. Es bleib nur wenig Zeit, sich anzuziehen und den Massen zu folgen. Eine rote Lampe leuchtete im Innern einer leicht gewölbten Wand aus Glas. Die dröhnende Stimme wieder. Erst ein Bellen, dann ein Knurren. Aus Bedrohung macht man keine Träume.

Und fliegen,

fliegen wie ein Fahrrad

fahren, das verlernt man nie.

Hier im roten Licht der Träume kamen ihm ganz fremde Worte ins Gedächtnis. Er war jünger gewesen. Viel jünger noch als heute. Er war in den Straßen der alten Stadt unterwegs. Ein Fenster leuchtete so rot wie die Lampe tief unter den Schornsteinen. Aus dem Fenster starrte eine Alte, grässlich und grau in seinen jungen Jahren. „Weißt du, mein Junge“, hatte sie gesagt, „früher konnten die Menschen fliegen.“ Fliegen, wie die Brummer im Sommer auf stinkende Menschen fliegen? Gebannt starrte er auf die fauligen Zähne der Alten. „Und fliegen“, führte sie weiter aus, „fliegen wie ein Fahrrad fährt, das verlernt man nie.“ Mit wenigen Griffen öffnete die Alte ihre Schürze und entblößte ihren schlaffen Busen. Er nahm die Beine in die Hand und schaute nicht zurück.

Fliegen. Fliegen verlernt man nie. In dieser Nacht lag er wach. Die Stimmen aus dem Teleschirm dröhnten weiter. Und wenn dann nachts das Wasser heiß war, wiederholte er im Dunkeln das Prozedere des Morgens. Heißes Wasser, rühren, trinken und stets den letzten Schluck mit einer gelblich schimmernden, beißend ätzenden Flüssigkeit auffüllen. Die leere Tasse steht mit den all Resten auf dem Balkonsims. Seine Gedanken kreisten um die Alte aus den Erinnerungen. Einen fliegenden Menschen hatte er noch nie gesehen. Fahrräder hatte seit Ewigkeiten niemand mehr gesehen. Die Schwielen an seinen Füßen schmerzten. Er streichelte rührselig den wackelnden Kopf der Krähe. Die dünnen Beinchen waren am Balkonsims montiert. Er löste sie heraus und wickelte mit väterlicher Fürsorge den fußlosen Plastikvogel in seinen Bademantel aus ein und hüpfte mit einem kräftigen Satz über den Rand des Balkons in die Tiefe.