Ihr, die ihr sicher wohnt
In euren gewärmten Häusern…
aus Primo Levis Gedicht »Sch’ma«, zit. n. Yad Vashem,
Internationale Holocaust Gedenkstätte
Heute ist der 27. Januar. Dieser Tag ist ein Symbol. Heute hast Du im besten Fall ein Blatt Papier genommen oder ein Stück Pappe und hast die Worte #WeRemember geschrieben. Du hast dich solidarisch gezeigt und ein Foto von Dir auf Instagram gepostet. #NieWieder heißt Deine Botschaft.
Du weißt natürlich, was dieses #NieWieder bedeutet. Nie wieder Krieg! Nie wieder soll es Nazis geben. Nie wieder sollen diese Nazis Jüd_innen verfolgen und ermorden. Deine Botschaft ist klar und deutlich, sie wird von vielen anderen geteilt. Und jedes Jahr auf’s Neue hallt diese Botschaft am 27. Januar durch die Welt und durch die Stories derer, denen Du auf Instagram folgst.
Viele Jüd_innen, Sinti_zze und Rom_nja in Deutschland fragen sich heute, ob Du es ernst meinst. Geht es Dir wirklich um eine Auseinandersetzung mit dem Holocaust und seinen Folgen? Zeigst Du dich wirklich solidarisch mit den Opfern antisemitischer und rassistischer Gewalt?
Erinnern heißt Verändern
aus dem »Manifest des Erinnerns« der Jüdischen Studierendenunion Deutschland
Die Jüdische Studierendenunion Deutschland hat ein »Manifest des Erinnerns« verfasst und dazu aufgerufen, sich aktiver mit unserer nationalsozialistischen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Die Schah nahm mitten in Deutschland ihren Anfang. Menschen wie Du und ich unterstützten eine offen antisemitisch und rassistisch agierende und agitierende Partei auf dem Weg zur Macht. Und sofort, nachdem die Nationalsozialisten zentrale Machtpositionen eingenommen hatten, begann ein breiter und offen sichtbarer Terror gegen Jüd_innen, Sinti_zze und Rom_nja, Sozialist_innen und Kommunist_innen, Christ_innen und Menschen mit Behinderung. Und diese Ausgrenzung, Entrechtung, Verhaftung und Ermordung begann lange vor Auschwitz, lange vor den Pogromen im November 1938.
Mit dem Ende des zweiten Weltkrieges und der Besetzung Deutschlands entstand der Mythos, dass Deutschland entnazifiziert wurde. Doch in allen Bereichen des gesellschaftlichen und politischen Lebens, in der Wirtschaft und im Ehrenamt blieben Nationalsozialisten, Mittäter und Akteur_innen der deutschen Vernichtungspolitik unbestraft. Viele konnten auch nach 1945 ihre Berufe weiter ausüben. Dies geschah durchaus mit Wissen der Besatzungsmächte und wurde teilweise auch von ihnen unterstützt. Alte Netzwerke halfen belastete Personen unterzutauchen oder unerkannt zu bleiben. Die Holocaust-Überlebende Esther Bejarano hat diese Zeit als das große Schweigen nach 1945 beschrieben. Und heute erleben wir jeden Tag antisemitische Übergriffe, rassistische Straftaten, ja sogar Morde, Anschläge auf religiöse Orte von Jüd_innen und Muslim_innen.
Dein Pappschild reicht nicht aus. Dein Engagement am 27. Januar reicht nicht aus. Deine Betroffenheit reicht nicht aus. Deine Betroffenheit muss zum Handeln führen, hat Esther Bejarano geschrieben. Deine Erinnerung braucht Veränderung!
Wie kann dieser Veränderung aussehen? Höre die Stimmen derer, die Gewalt erfahren haben. Zeige dich solidarisch und unterstütze sie, sodass ihre Stimmen Gehör finden. Unterstütze die Arbeit der Gedenkstätten in deiner Nähe. Organisiere Zeitzeug_innengespräche mit Überlebenden und Hinterbliebenen von Überlebenden der Schoah. Lese Texte, Gedichte und Erinnerung, die authentisch von den Gewalterfahrungen berichten. Sorge dafür, dass die Erinnerung lebendig und vielfältig bleibt.
Noa Mkayton hat in der Zeitung Politik & Kultur, dass unsere Erinnerung an die Schoah wesentlich davon abhängt, »auf welche Quellen wir uns dabei stützen«. Die Quellen der Täter_innen erzählen die Geschichte der Täter_innen. Hinterfrage die Erzählungen in Deiner Familie, auch wenn Du dir nicht vorstellen kannst, dass Dein Großvater oder Dein Urgroßvater Teil dieses verbrecherischen Systems war. Mitglieder meiner Familie waren beteiligt. Wir müssen uns bewusst werden, dass die überwiegende Mehrzahl der Deutschen zwischen 1933 und 1945 an der Entrechtung, Verfolgung und Ermordung, an Kriegsverbrechen, beteiligt war oder sie billigend in Kauf nahm. Sie waren es auch, die überlebten und die Erinnerung an die Zeit vor 1945 tradierten.
Selbstzeugnisse von Verfolgten des Nationalsozialismus wiederum waren lange nur eine Randerscheinung in der Erinnerungskultur, dabei sind sie, wie Primo Levis Gedicht »Sch’ma« entstanden, um die nachfolgenden Generationen von ihrem Schicksal zu erzählen. Sie sind in dem Wissen entstanden, dass die eigene Biographie eine Gegengeschichte zur Mehrheitsdeutschen Erinnerungskultur sein würde. Ohne unsere Erinnerungsarbeit werden die Zeitzeug_innen vergessen. Ohne unsere Erinnerung erfahren Menschen weiterhin rassistische und antisemitische Gewalt. Ohne unsere Erinnerung gibt es kein Überleben.