TW: Suizid
Ich will aufbrechen. In dem Moment, in dem ich es erfahre. Mir ist völlig klar, ich muss gehen. Also packe ich eine Tasche. Ich habe diesen Umstand nicht geplant. Ich habe ihn nicht einmal kommen sehen. Die Tasche quillt schnell über, mit dem Nötigsten. Und doch sind es hauptsächlich T-Shirts mit komischen Sprüchen darauf. Frage mich nicht. Es ist mir peinlich. Vielleicht stelle ich mich auf lange Nächte mit Gesprächen ein, in denen wir über diese Sprüche lachen. Wir greifen ganz blind in die Tasche und schauen, welchen wir heute wieder herausgezogen haben. Und dann trifft mich der Schlag, ganz unvermittelt, als hätte ich kurz vergessen, warum ich diese Tasche packe.
Ich sage mir, ich muss das jetzt tun. Ich lache verlegen. Mir ist auch nicht zum Lachen zumute. Aber du wirst lachen, wenn ich dir ganz objektiv versuche zu schildern, warum ich dich nicht gehen lassen kann. Ich werde ernst vor dir stehen und sagen: »Das Leben ist kein Zug, man kann nicht einfach aussteigen.« Du sagst, dass wir davon T-Shirts drucken lassen sollten. Wenn ich dir unter Tränen sage »Stirb nicht!“, dann geht es dabei gar nicht um mich, weil es mich ganz persönlich betreffen würde. Das würde es, keine Frage. Auch will ich hier keineswegs die marode Moral eines Kirchenpredigers vorbringen. Weiß Gott, mir würde Besseres einfallen. Aber ich muss es verhindern. Die Menschheit darf dich nicht verlieren, weil diese Welt sonst zu einem schlechteren Ort werden würde. Du könntest jetzt natürlich Améry zitieren, das hast du drauf. Und ich würde Hegel zitieren, wie er Améry widerlegt. Aber wir wollen nicht, dass ich Hegel zitiere. Und du willst nicht Améry sein.
Die Tasche geht nicht zu. Auf dem Boden liegen Kleidungsstücke, die ich aus dem Knäuel der Dinge, die in dieser Tasche gelandet sind, ziehen musste. Gleichzeitig buche ich ein Ticket. Einmal quer durch die Republik. Wohin? Ich weiß es nicht. Ich glaube zu wissen, dass du momentan eh nicht da bist, wo du sonst bist. Gedanken rasen durch meinen Kopf. Das ist kein Problem, dass du nicht zuhause bist. Ich bereite einfach alles für deine Rückkehr vor. Ich weiß zwar nicht, was mich erwartet, aber ich werde es richten. Es richten. Ja! Das scheint mir das richtige Wort. Als würde ich es einfach richten können. Als würde ich dich einfach so lang mit äußeren Dingen ablenken können, bis dein Inneres geheilt sei. So einfach ist das. Und allein der Gedanke, du kämst zurück an diesen einen Ort. Auf dem Teppichboden sind noch immer die Fußabdrücke der Polizist_innen zu sehen. Der Notarzt hat vergessen, die Verpackungen der sterilen Geräte zu entfernen. Das Fenster ist offen geblieben. Die Heizung läuft. Das Zimmer ist kalt. Ohne Licht bleibt hier nichts lebendig. Ich werde alles richten. Die Bettwäsche waschen, den Teppich reinigen. Das Fenster schließen. Ich besorge Kerzen, große bunte Kerzen. Oder wäre das falsch?
So langsam glaube ich, dass der Zug nicht einfährt. Die Anzeige steht unendlich lang auf der gleichen Minutenzahl. Ich erinnere mich an deine Worte: Die Uhr tickt nicht, sie rastet laut ein. Vielleicht wäre es an der Zeit, dass sie endlich einmal ausrastet. Die Bahn braucht mehrere Stunden zu dir. Wenn die Zeit weiter so langsam verstreicht, werde ich niemals rechtzeitig sein. Ich will doch rechtzeitig ankommen. Ich muss rechtzeitig ankommen, um zu verhindern, dass du uns antust, was du dir angetan hast. Ich will meinen, du hast kein Recht dazu. Und schon wieder bürde ich dir die Summe der Angst und der Wut der gesamten Menschheit auf. Dabei hast du alles Recht der Welt bei dir. Vielleicht wird es anders, wenn ich deine Hand halte. Wenn ich dich mit Liebe überschütte, bis du nicht mehr atmen kannst. Doch was unterscheidet meine Hand von den vielen anderen, die deine in den vergangenen Jahren gehalten haben? Würdest du sie wegstoßen, weil du weisst, dass Hände gar nicht heilen können?
Meine Handlungen bleiben im Konjunktiv der Gedanken. Ich sehe die Rücklichter des Zuges. Ich sehe die Machtlosigkeit meiner Hände. Die Finger sind blaugefroren vor Kälte. Ich weiß nicht, wo du wohnst. Ich weiß nicht wohin ich soll. Ich weiß nur, dass du nicht gehen sollst. Und auch wenn ich den endlosen Weltgeist vorschicke, im Grunde will ICH nicht, dass DU gehst. Ich will etwas gegen meine eigene Ohnmacht tun und versage doch vollends. Ich habe gefühlt, was du gefühlt hast. Ich ziehe daraus die Kraft, dir nie sagen zu müssen, dass du nicht tragbar bist, und bemerke dabei nicht, wie absurd der Gedanke ist, aus einem Moment völliger Kraftlosigkeit Kraft ziehen zu wollen. Aber ich bemerke die Absurdität des Erlebten, wenn dir in einem Moment gesagt wird, du seist nicht tragbar, in dem du die Tragfähigkeit deines Lebens in Frage stellst. Ich bin wütend wie du, aber aus anderen Gründen.
Meine Hände überfordern dich und mich. Die Kälte schmerzt, weil wir versagen werden. Und das auf ganzer Linie. Ich werde versagen. Aber vielleicht geht es genau darum, zu versagen. Den Weg des Versagens so gut wie möglich zu gehen. Der Tag an dem unser Herz versagt, soll ein guter sein. Ein Tag, an den wir noch lange zurückdenken. Und wir wollen vorbereitet sein. Wir werden alte Filme schauen. Wir werden das Sterben beobachten, so gut es geht. Wir werden es üben, jeden Tag, und am Ende doppelt sterbend untergehen.