Die Illusion zweier Trugbilder tragen mich davon

»Schreiben bedeutet, die eigenen Überzeugungen zu widerlegen.«

Karos Taha auf @goetheinstitut_marseille

Es gibt Tage, an denen es mir leicht fällt, meine eigenen Überzeugungen zu widerlegen. An manch anderen Tagen bin ich überzeugt, dass es keine Überzeugungen geben kann, dass jede Überzeugung nur eine Illusion zwischen den Menschen ist und die Menschen selbst nur Trugbilder meines die eigenen Überzeugungen widerlegenden Geistes sein können. An eben diesen Tagen setze ich mich gern an die Promenaden und Boulevards, in die Cafés und Biergärten dieser Stadt. Wenn sich die Seiten meines Notizbuches dann mit feinen Sandkörnern füllen, die der Wind seeseitig herüberweht, folge ich den vorüberziehenden Trugbildern und ihren Illusionen mit meinen Augen, meinen Gedanken und meinem Stift.

An Sonntagen, wenn sich alles in feinste Zwirne geworfen hat, blühen die Promenaden. Männer haben schon früh am Morgen begonnen, ihre Bärte zu stutzen und wohlduftende Öle aufzutragen. Und die Frauen haben leuchtend bunte Bänder in ihr schönes Haar geflochten. Die Männer, die mit Ausnahme eines weißen Hemds gänzlich in schwarz gekleidet sind, stolzieren allein oder in kleinen Grüppchen durch die Straßen. Alle paar Meter wird der Sitz der Bärtchen korrigiert. Ein Strich über das ölige, wohlduftende Haar hier, ein Zwirbeln, um die Bartspitzen in Position zu bringen, dort. Und auch die Frauen sind hier in der Sonne herrlich anzuschauen. Nie allein, immer in kleineren und zuweilen in größeren Gruppen federn sie über die prachtvollen Boulevards. Ihre bunten Bänder leuchten von so weit her, als wäre die Sonne nur ihretwegen aufgewacht. Überall ist das freudige Glucksen, das Kichern zu hören, das den Männern die Bereitwilligkeit zur Kontaktaufnahme signalisieren soll.

Wenn nun ein Mann die Gunst einer Auserwählten gewinnen will, so geht er zunächst an ihr vorüber. Vielleicht zeigt eine kaum merkliche nickende Bewegung das Interesse an. Aber die Männer sind wählerisch. Die buntesten und schönsten sollen es sein. Bisherige wissenschaftliche Arbeiten gingen davon aus, dass sie sich bei der Auswahl stets an der Gebärfähigkeit orientieren. Diese Lehrmeinung ist mittlerweile überholt. Der Mann bemisst viel eher die Zahl der Bändchen, die Farbenpracht, das Wehen des Haars im Wind und die Leichtigkeit des Federns bei der Auswahl.

Ist das Subjekt der Begierde auserkoren, stampft der Mann, schon einige Meter entfernt, lautstark mit dem linken Fuß auf. Dann dreht er den Fuß nach außen und der gesamte Körper folgt. Die Hände werden in die Hüfte gestemmt. Ein leichtes Pfeifen und ein starrer Blick auf die Frau sollen nun eindeutig die Auswahl markieren. Diese wiederum gehorcht prompt, löst sich aus der Gruppe und folgt dem Mann. Sie setzen sich, zunächst mit ein wenig Abstand, auf eine Bank in der Nähe. Die Frau korrigiert galant ihren Sitz. Doch sie scheint unzufrieden. Es ist nun die Aufgabe des Mannes diese Unzufriedenheit zu erkennen und entsprechend darauf zu reagieren. Geschieht das nicht oder nur unzureichend, hat sie einmalig die Chance aufzustehen und zu ihrer Gruppe zurückzukehren. In einigen Forscherkreisen wird heftig darüber debattiert, ob die fehlende Reaktion des Mannes auf die Unzufriedenheit der Frau an der mangelnden Anzeigekraft der Frau oder an der fehlenden Wahrnehmung des Mannes liegen muss. Eines ist jedoch sicher, steht die Frau nicht auf, verbleibt sie lebenslänglich an der Seite des Mannes. »Bis der Tod Euch scheidet« ist hier keine Frage vor dem Altar. Am morgigen Tag muss die Frau dann die bunten Bänder, die sie sich noch am Morgen sorgsam in die Haare geflochten hatte, für immer ablegen.

Diese Vorstellung erfüllt mich mit Trauer. In dem Moment, in dem ich aufwache, ist die Welt von gestern in eine fremde Realität getaucht. Dahinter stehen Überzeugungen, die so stark sind, dass sie das Leben aller maßgeblich gestalten. Sie formen Welten neu. Sie zwingen junge Menschen, alte Seelen in die Isolation. In diesen Momenten, wenn ich die Augen öffne, beginne ich zu schreiben. Ich schreibe von schwarzen Hüten mit bunten Bändern. Ich schreibe von zwei Mädchen, die auf einer Bank sitzen, ich schreibe von Menschen, die ihren Überzeugungen entgegentreten. Und ich schreibe von zwei Trugbildern, die vor meiner Bank stehen und mich nach meinen Notizen fragen. Ich erzähle Ihnen von vorüberziehenden Illusionen und lenke ihren Blick in den Himmel. Wolken ziehen vorüber. Die äußerst real wirkenden Trugbilder durchschauen die Finte. Ich komme nicht weit. Ich habe meine Überzeugungen widerlegt. Ich habe versucht diesen Widerspruch zu verspeisen. Nun bin ich überzeugt, dass die Illusion zwischen meinen beiden Trugbildern zu meiner Realität geworden ist. Sie reißen meinen Hut herunter. Das bunte Hutband färbt sich schnell mit meinem Blut. Als mich die beiden Trugbilder wegtragen, denke ich: »Komisch, rot hatte heute so gar nicht gepasst.«